Texas Reliable News

Buch, 2015

 

Während eines halben Jahres verschickt Sabine Troendle einen wöchentlichen Broadcast aus Texas: Fotografien und Text via E-Mail sowie einen Link auf ihre Website, wo der neuste Beitrag jeweils Montagmorgen 8 Uhr Schweizer Zeit aufgeschaltet ist. Erzählt werden Geschichten aus Amerika, Texas. Es sind die Beobachtungen einer Fremden, die sich der Wirkung des selbstverständlich gelebten texanischen Alltags auf ihre schweizerisch geprägte Wahrnehmung und Wertung durchaus bewusst ist.

 

Sabine Troendle ist Fotografin, Künstlerin und Autorin der “Texas Reliable News”. Sie kommentiert Geschehnisse aus ihrer Sicht, nimmt jedoch die Identität der Redaktion der “Texas Reliable News” an. So schafft sie ein Format, das ihr einerseits erlaubt, als Berichterstatterin unterwegs zu sein,

andererseits die Wichtigkeit und den Wunsch nach alternativen, entschleunigten Informationsformen in der heutigen Medienlandschaft betont.

 

Zum heutigen Zeitpunkt sind sie in den entsprechenden Posteingängen wahrscheinlich grösstenteils nicht mehr nachweisbar. Mit der Übersetzung ins Buchformat werden die Broadcasts nicht nur zugänglicher, greifbarer und überschaubarer, sie erhalten auch neues Gewicht.

 

Die verlässlichen News werden durch einen Essay von Dr. Prof. Jörg Huber, bis 2013 Leiter des Instituts für Theorie der Zürcher Hochschule der

Künste, ergänzt, der die brisante Thematik der Berichterstattung, ihrer Ausprägungen und den Wandel derselben beleuchtet.

 

 

Texas Reliable News

300 Exemplare

260 Seiten

 

 

SABINE TROENDLE

FOTOGRAFIE

Texas Reliabe News Books
Texas Reliabe News Book
Texas Reliabe News Book

Jörg Huber

Zur Ästhetik

der Mitteilung

Ein Versuch

Wenn einen die Bilder und Texte von Texas Reliable News

aus heiterem Himmel erreichen, ist man alsgleich fasziniert

und auch erstaunt. Schnell ist man drin und erwartet ungeduldig weiteres – und wundert sich gleichzeitig und fragt

sich, was einem da zukommt, aus der Ferne, aus Texas.

Sehen lernen

Texas – ein Bundesstaat im Süden der USA, grossräumig und

bevölkerungsreich. Ein weites Land: Landwirtschaft, Vieh-

zucht; die Heimat von Ted Cruz, Senator und Aushängeschild

der Tea-Party-Bewegung, der jüngst tatkräftig mithalf, die

USA an den Rand des Bankrotts zu bringen. Texas: Houston

und Cowboys, ein Mentalitäts-Raum, den die kleinen Ge-

schichten und Beobachtungen von Texas Reliable News zugän-

gig machen. Eine konservative Ecke, denkt man, und fragt

sich: was ist damit gemeint? Wie fühlt sich das an? Um eine

Mentalität zu erfahren, muss man das Sehen wieder neu

lernen, ein Sehen im Widerstand gegen die Herrschaft der

informierten und verstellten Blicke, der vorgefassten Ansich-

ten und Meinungen. Sehen lernen mit Zeit-Zeugen: «Wenn

du Meinungen hast, kannst du nicht sehen.» (Joe Strummer)

Zurück zu einem Nullpunkt also, absichtslos. Langsamer

gehen (Kent Haruf); etwas passiert: plötzlich, es ereignet sich,

fällt dir zu, ohne dass du es erwartet hast: dann, wenn nichts

passiert. (Jake Silverstein) Einfach Bilder machen, en passant,

um sich vorzubereiten auf das Wissen, was, wann zu tun ist.

(Robert Frank) In Erwartung. Geht es doch letztlich um die

«poetische Kraft in dieser unbestreitbaren Tautologie wie in

allem, bei dem es nichts zu verstehen gibt.» (Jean Baudrillard)

Und dazu, zu diesen Stimmen, sehen wir Bilder von Assembla-

gen alltäglicher Zufälligkeit, die ihre skulpturale und poeti-

sche Kraft entfalten, indem sie ohne Sinn sind, nichts meinen

und bedeuten, sondern einzig Zeugnis ablegen, dass da etwas

war oder etwas «kurz vor dem Passieren ist». (John Fante) Es

ist dies die Poesie einer Ding-Magie. Dinge – Objekte, Gerät-

schaften, Autos, Häuser, Signale – sind in diesen Bildern nicht

nur semiotisch erfasst: Sie sind nicht nur Zeichen für etwas,

sondern sind dieses Etwas selbst. Sie stehen für sich und sind

unter sich.

Sie entwickeln ein Eigenleben und kommen auf uns zu, affi-

zieren uns und wirken auf uns. Wir können uns nicht (mehr)

als triumphales Subjekt vorstellen, dass die (Um-) Welt

zum Objekt macht, über sie verfügt und sie beherrscht. Wir

sind vielmehr Teil von Dispositiven, in denen Architekturen,

Dinge, Apparate mit uns vielfältig interagieren. Die Dinge

treten ins Bild und irritieren das Vertraute. «Texas» erfahren

verlangt das Vergessen unserer Wertekultur und ein Bekennt-

nis zur Unkultur, wie Jean Baudrillard zitiert wird: verlangt

«die Waghalsigkeit des Nullpunktes einer Kultur». Der Blick

fällt aus Innenräumen auf Landschaften, Hinterhöfe, Strassen;

durch Fensterrahmen fragmentiert und Fensterglas oder

Vorhänge getrübt: eine Sicht die die «inneren» Vorstellungen

weckt, die Einbildung herausfordert. Kein Überblick der

Orientierung also, sondern Aussichten in Vages. Die Kraft der

Ambivalenz: Texas Reliable News berichten verlässlich im Er-

leben von Geschichten, dass im Misslingen oder Scheitern die

Möglichkeit von Neuem sich eröffnet, gegen das Gelingen und

seine Kapitalisierung. Bilder als Flaschenpost. Es gibt da die

Geschichte vom Postboten, der die Post bringt für jemanden,

der nicht mehr da ist, niemand will die Post, der Bote weiss

nicht, was tun. Eine Mitteilung, die nie ankommt, die immer

unterwegs ist; die ihr Ziel nicht erreicht, was ihr gelingt.

Failure as success, Texas.

 

 

Flanierende Aufmerksamkeit

In jedem Weltbezug, den wir uns (und für andere) herstellen,

geht es auch um Aufmerksamkeit. Üblicherweise meinen wir

damit etwas, das ständig gefordert ist, von uns, und von den

anderen. Eine Art Wachsamkeit, die sich auf etwas richtet

und Konzentration verlangt, die Wahrnehmung steuert und

ausrichtet: in der Ausbildung, am Arbeitsplatz, im Verkehr

– und allgemein eben der Welt gegenüber. Die Informations-

arbeit der Medien inszeniert und kanalisiert sie, und wir

versuchen im selben Zug sie auch auf uns zu richten und zu

akkumulieren: Wer wahrgenommen wird und im Rampen-

licht steht hat gewonnen. Mit dieser Art Aufmerksamkeit wird

eine allgemeingültige Weise von Gegenwärtigkeit behauptet,

von Interesse, und Achtsamkeit, die uns als Zeitgenossinnen

und Zeitgenossen auszeichnen soll – eine Verbindlichkeit,

die jedoch bedeutsam ist nur in Form von Einschaltquoten,

Einkommen und anderen statistischen Zurichtungen. Es

gibt da aber auch eine andere Art der Aufmerksamkeit, die

sich in der Zerstreuung ergibt, die frei schwebt und streunt

und sich öffnet, neugierig; als eine Performanz der Präsenz,

die sich mit einer Absenz verbindet; einer Aktivität, die als

Passivität erscheint. Aufmerksamkeit als Empfänglichkeit:

für etwas, das auf mich zukommt, mir zufällt. Etwas, das

verdeckt ist, da war oder kommen wird, anwesend in seiner

Abwesenheit. In diesem Widerfahren gehe ich nicht auf die

Welt zu, um sie zu vermessen und zu begreifen, und sie damit

mir zu eigen zu machen; im Gegenteil: die Welt kommt auf

mich zu, stösst mir zu, mutet mich an, berührt mich. Der-

artaufgemerkt bin ich sensibilisiert für ein Ausser-mir, ein

Gegenüber: Andersheit. Ich lasse das Andere zu, in seiner

Fremdheit. Es ist dies eine Wahrnehmung, in der die Welt

mir vertraut wird, indem sie mich befremdet; in der sich das

Wahrgenommene immer auch entzieht, nicht verfügbar ist.

Die Reliable News sind dieser flanierenden Aufmerksamkeit

verpflichtet. Während die journalistische Aufmerksamkeit

die Welt und uns informiert und damit formatiert, findet hier

ein Mitteilen statt, dessen Ästhetik die Vielstimmigkeit und

Unentschiedenheit von Welt anerkennt, und entsprechend

eine visuelle Erfahrung ermöglicht, die Räume der Andeutun-

gen, der Affektionen, der Übergänge und des Vagen eröffnet.

Die Reliable News exponieren Ansichten und Erzählungen

einer Welt-Erfahrung, die en passant geschieht. Das spricht

uns in unserem eigenen Unterwegssein an, da klingt in uns

etwas an. Das betrifft uns, unmittelbar.

 

 

Genre-Bilder des Beiläufigen

Die Bilder und Geschichten faszinieren uns – es geht somit

auch um Attraktivität oder Verzauberung. Alles wird heute

gnadenlos zum Event, das Unberechenbare des Ereignis

mutiert zum Kalkül der Eventkultur. Deshalb übernehmen

immer mehr Schauspieler Regierungsfunktionen. Bilder

funktionieren im Medienzirkus, indem sie sich gegenseitig

übertreffen hinsichtlich eines sogenannt Spektakulären.

Sie müssen attraktiv sein und uns verführen. Unterhaltung

ist angesagt. Sie wirken primär über das «Motiv», über das,

was sie zeigen, auch oder gerade dann, wenn sie damit oft die

Welt nicht erhellen, sondern verstellen. Sie machen vor allem

sich selber sichtbar. Die Bilder, die uns die Reliable News zu-

kommen lassen, ereignen sich und erreichen uns damit auf

andere Weise. Sie erwecken den Eindruck, als ob sie absichts-

los geschehen wären, und erscheinen auf den ersten Blick

gleichgültig. Man könnte sie als eine Art Genre-Bilder des

Beiläufigen bezeichnen. Und gleichzeitig haben sie als visuelle

Chiffren (oder Signaturen) des sozialen Lebens eine auf-

fallende Präzision und Signifikanz. Ich möchte dazu einige

Genre-Titel vorschlagen.

 

Terrain vague. Die Poesie des Unentschiedenen. Zwischenge-

biete, eine Brache mit Baracken, ein Feldweg, ein Fluss, eine

Abzäunung in einem Feld, das niemand zu bebauen, zu beach-

ten scheint. Und dazu einige Sätze zu Visum, Geburtsschein,

Familie, Heimat, Immigration: meine Welt, deine Welt, über

die Reichen und die «Menschen mit einem Traum». Men-

schenleere Bilder. Bilder eines terrain vague: Landschaften, die

vergessen gingen und die wieder entdeckt werden können;

Orte eines kontingenten Lebens: Möglichkeitsräume, Räume,

die von Menschen beansprucht werden können, um andere

Menschen auszugrenzen; Räume, die offen sind für Menschen,

die ankommen: Zukunftsräume: für das was kommt. Räume

ohne klare Zuordnung, die zum Innehalten zwingen, die es

auszuhalten gilt.

 

Stilleben. Angehaltene Momente, ein stillgestelltes Leben.

«Frau schaut aus ihrem Küchenfenster hinaus.» Das Bild

zeigt eine Frau, die in ihrer Küche steht und aus dem Fenster

schaut. Rückansicht, Gegenlicht, man sieht ihren Blick nicht,

man sieht nicht, was sie sieht. Man sieht eine Frau, die aus

ihrem Küchenfenster schaut. «Mann sitzt im Auto», «Musiker

schaut auf sein Instrument» – und immer zeigen die Bilder,

was die Sätze sagen. Dieses Ineinanderfallen produziert Stil-

leben. Die Figuren stehen und sitzen da, sie halten inne, um

uns ihre Räume, die Wohn- und Arbeitszimmer, die Land-

schaften, die Ateliers zu eröffnen, und uns Zeit zu geben, sie

gelassen zu durchstreifen und zu erleben, in aller Ruhe, denn

wir wissen, dass die Figuren warten: sie stehen und sitzen

einfach da in ihrem stillgestellten Leben.

 

Bilder-Haikus. Ein kaleidoskopartig arretiertes Alltagsleben.

Konstellationen, die uns hinsehen und neugierig machen,

ohne dass wir genau wissen warum und was wir davon halten

sollen. Füllige Körper von Menschen, die in einer Kantine

zum essen anstehen; nachts, mächtige Flutlichtleuchten, die

die zerstreuten Figürchen der Fussballspieler auf dem Spiel-

feld auszulöschen drohen; Menschen, die auf einem städti-

schen Platz spätnachmittags tanzen; eine festliche Stimmung

im gutgefüllten Theater, kurz vor dem Beginn der Auffüh-

rung und in der Mitte ein Mann mit Cowboy-Hut. Es sind

dies in und mit der Fotografie arretierte und damit zu Kür-

zestgeschichten kondensierte, scheinbar nichtssagende Erzäh-

lungen, die aneinandergereiht einen möglichen Tag im Leben

von Texas ergeben; einen Tag, der in einzelnen Einstellungen

vor unseren Augen vorbeizieht, markiert nur durch die Anga-

be der jeweiligen Uhrzeit. Bilder, die nicht die Arbeit zeigen,

nicht das Private, sondern ein öffentliches Leben, das gelebt

wird. Ist das ein gutes Leben, fragt man sich, dort irgendwo

in Texas?

 

Ungewisse Klarheit – möge das so bleiben!

Bilder brauchen Legenden, die sie anbinden; Bilder müssen

lesbar sein, so die Devise derer, die von der Welt Bericht

erstatten. Bilder sind Nachrichten und «Nachricht» bedeutet

(Deutsches Wörterbuch): «mittheilung zum darnachrichten».

Die Lesbarkeit der Bilder garantiert die Lesbarkeit der Welt

und damit ihre Verständlichkeit, so das Credo des Infor-

mationsbusiness. Entsprechend werden die Bilder kontex-

tualisiert, nach den bekannten 6 «W», die das Medienbild

verorten: Wo? Was? Wer? Wie? Wann? Warum? Bilder sollen

damit eindeutig sein in ihrer denotativen Funktion. Vage

Bilder, die sich nicht festlegen lassen, erschrecken, denn damit

gerät die Welt aus den Fugen – womit gesagt ist, dass es hier

auch um Ermächtigung und Kontrolle und Verfügung geht:

über Welt und Bilder.

Wir könnten nun versucht sein, die Unlesbarkeit der Bilder

zu fordern – wie sie, so meine Empfindung, die Reliable News

ins Spiel bringen. Ein Freund vermutete einst, dass Text zu

Kunstwerken unverzichtbar scheint, weil jener die Garantie

liefert, dass diese überhaupt einmal wahrgenommen wurden.

Diese Argumentationsfigur gefällt mir gut, wobei ich ergänzen

möchte, dass das Kunstwerk gleichzeitig den Text herausfor-

dert, um deutlich zu machen, dass es sich ihm in jedem Fall

auch entzieht: uneinholbar bleibt. Und genau dieser Chiasmus

von Präsenzvergewisserung und Entzugsbehauptung prägt

das Text-Bild-Spiel von Texas Reliable News. Texte und Bilder

laufen nebeneinander her, sie weisen aufeinander und sind

sich im selben Zug gleichgültig; sie kommen einander näher

und entfernen sich entschieden. Doch stets produzieren sie

eine Spannung der Bezüglichkeit, der Verhältnisnahme, nicht

zuletzt auch, weil sie unterschiedliche Weisen der Rationalität

und der Wahrnehmung exponieren. Den Bildern eignet eine

spezifische Logik des Visuellen an, eine andere Logik als die-

jenige des Sprachlichen: des Nicht-Präpositionalen und des

Nicht-Prädikativen. Bilder zeigen (etwas), so wie die Sprache

(etwas) sagt, sie geben (etwas) zu sehen, während die Sprache

(etwas) zu vernehmen gibt. Wenn das vorherrschende Ver-

ständnis hier klare Trennungen vornimmt und eine gegensei-

tige Indienstnahme etabliert (das Bild illustriert den Text,

der Text erklärt das Bild), ermöglicht das offenere Verhältnis

dagegen die Einsicht und die Erfahrung, dass beide Seiten sich

bespiegeln und durchkreuzen. Auch Bilder sagen etwas, auch

sie führen zu einem Verstehen; auch Sprache hat ihre visuellen

Seiten und ihre sinnliche Qualität. Ihr Gemeinsames könnte

man, in Hinsicht auf die Reliable News, als ihre Poesie be-

zeichnen. Im Poetischen klingt in der Textlektüre das Bild als

Echoraum an und im Bild schreibt sich der Text ein als Spur,

Markierung, Klang, Anzeichen, Signatur. Es ist diese Art

zwiespältige oder doppelbödige Empfindsamkeit, die Reliable

News in Gang setzen und begleiten und eine Welterfahrung

berühren, die weiter oben als latente Aufmerksamkeit ange-

sprochen wurde. Hier entsteht ein Riss im medialen Verfügen

über die Welt und diese erscheint, derart eröffnet, als das

Unverfügbare und stets wieder neu zu Erfahrende. Kein

Ab- und Verschluss also, sondern jede Sendung ein Angebot,

ein Geschenk, eine Gabe – jenseits jeder Erwartung, denn

würde sie erwartet, in dem was sie enthält, wäre sie keine

Gabe. Poesie als Gabe. Peter Handke schreibt zu Beginn

seines neuen Textes über den «Pilznarren», dass er versucht –

es ist ein Versuch! – sich über die Geschichte eines Freundes

«eine gewisse – oder eher eine ungewisse – Klarheit zu ver-

schaffen». Doch ist ihm schon da, am Anfang, Wesentliches

unklar, und er notiert: « ... und wird und wird mir auch nicht

klar; und wieder unwillkürlich sage und schreibe ich jetzt:

‹Möge das so bleiben›!» Der Text wird keine Klärung liefern.

Genau so könnte dies für die Reliable News-Sendungen

stehen, die eine Faszination erwecken, indem sie wie Rätsel

oder ein Geheimnis funktionieren. Sie bewirken diese unge-

wisse Klarheit oder Nicht-Klarheit, die nicht aufgehoben

werden kann und soll. Ein Bild zeigt ein mittelständisches

Wohnen auf dem Land, menschenleer, zwei Häuser, ordentlich

gemähter Rasen, eine asphaltierte Strasse, die den halben

Bildraum einnimmt: ein non-lieu. Der Text sagt: «Aber die

Reichen haben Angst. Sie fürchten sich vor den Steuern.»

Anlässlich eines Symposiums über Erzählen mit Daten schil-

derten zwei Macher einer grossen Schweizer Tageszeitung,

wie sie in einem umfangreicheren Beitrag über «Fukushima»

berichten. Bilder vor Ort, Interviews mit «Betroffenen»,

Bericht des Journalisten und Grafiken mit Daten aller Art,

die die «Hintergründe» liefern. In diesem Package werden

heute die Daten-Grafiken immer wichtiger, da mit ihnen,

so die Meinung, «komplizierte Zusammenhänge» anschaulich

und damit verständlich gemacht werden können. Diese Art

«Anschaulichkeit» soll Evidenz stiften: die Grafik zeigt, wie

eine Kurve nach unten führt, und die Legende sagt, dass

das radioaktive Kontamination (der Landschaft) sinkt. Der

poetische Broadcast will genau diese Evidenzstiftung verhin-

dern: Unlesbarkeit, Ungewissheit oder eine ausgeschobene

Gewissheit: «Möge es so bleiben!» Dies aber eben als spezi-

fisch, poetische Form der Erkenntnis und der Wahrnehmung,

die Annäherung und Erfahrung, Empfindung und Mit-Teilung

ist – nicht als Zeichen von Ignoranz! Es gibt ein Verstehen

im Nicht-Verstehen, eine Erkenntnis, die nicht rational

verfährt, eine Sinngebung, die affektiv erfolgt.

 

 

Fotografien, Bilder.

Der Kunstwissenschaftler Georges Didi-Huberman ent-

wickelt in einer Bildreflexion zu einer «Verkündigung»

von Fra Angelico folgende Unterscheidung: Das Bild zeigt

einerseits links den Engel, rechts Maria. Das ist die Dar-

stellung, die Erzählung der Geschichte, die wir kennen. Das

Schauspiel. Das ist die Sichtbarkeit des Bildes. Andererseits

öffnet sich in der Bildmitte ein weisser Raum, ein Raum

der weissen Farbe, des Weissen. In diesem Farbereignis zeigt

sich das Unsagbare, das zwischen den Figuren geschieht.

Und es zeigt sich damit das Bild selber, seine Bildlichkeit,

seine Visualität. Bilder oszillieren zwischen Sichtbarkeit und

Visualität, zwischen Narration und Bildlichkeit. Die Bilder,

die uns von den Reliable News zukommen, verschieben die

Aufmerksamkeit weg von der gegenständlichen, linearen

Narration hin zu der Visualität. Diese Bildlichkeit ist ihre

Leere und umgekehrt. Diese Leere ist ihre Bedeutung, eine

Bedeutung, die uns nicht etwas Bestimmtes bedeutet, sondern

die von uns immer wieder erneut hergestellt werden muss.

Die Bilder ergeben sich stets neu, mit jeder Geschichte, mit

jeder Bemerkung, die ihnen beigestellt wird, und wir beleben

sie stets neu mit jedem Blick, den wir in sie versenken.

 

 

Weil da jemand war

Texas Reliable News berichten von etwas, das nur schwer

fassbar ist, das wir aber alle irgendwie zu kennen scheinen.

Das heisst aber nicht, dass es sich nicht auch fassbar und

konkret zeigt. Die Reliable News gehen ebenso zur Sache,

und «Amerika» steht ebenso für eine konkrete politische

und soziale Realität. Hier geht es um die Bedrängnisse eines

alltäglichen (Über-)Lebens, um Gemeinschaft und Commu-

nity, Öffentlichkeit und Demokratie, Ressourcen, Eigentum

und Gewalt, Multikulturalität und das Land der unbegrenz-

ten Möglichkeiten, um das Hier und Dort bei Grenzen,

um Immigration und «my land» und auch um die «Fünfte

Schweiz» ... Reliability, Verlässlichkeit. «Aus sicherer Quelle ...»

versichert das News-Geschäft – «aufgrund einer Anwesenheit»

würden die Reliable News sagen. Wir können uns auf die Mit-

teilungen verlassen, nicht weil «es so war», sondern weil da

jemand war. Es fand sich jemand ein, war dort, nahm sich

Zeit, nahm wahr. Liess Bilder zu, schaute, erlebte, las Litera-

tur und Zeitungen, sprach mit den Menschen, versuchte dort

zu leben und wollte dieses (Er)Leben an andere aussenden,

um Teilnahme zu ermöglichen.

 

 

Von einem Punkt einer intensiven Gegenwärtigkeit

netzwerkartig ausgestrahlt: Broadcast.

Von einem Punkt aus. Die Subjektivität, die aus der Nähe ent-

steht, als Bodenperspektive, als ein leibhaftes Sehen, einer

Art Feldforschung. Eine Subjektivität, die das, was sie sieht

und bemerkt erfindet, die die Geografie herstellt, in der sie

unterwegs ist. Geografie entsteht, indem Menschen die Natur,

die Landschaft, den Boden begehen, sich aneignen und sich

eintragen. Diese Spuren, auch wenn sie nur ephemer sind und

kaum sichtbar, können von dem- oder derjenigen, die sich

einfindet, entdeckt und entziffert werden. Bei den Reliable

News handelt es sich um Bilder nicht über etwas; nicht Bilder,

die etwas thematisieren, sondern um Bilder, in denen sich

etwas zeigt, die etwas zu sehen geben. Es sind Bilder, in denen

Signaturen einer Zeit zu sehen und zu «entziffern» sind. Es ist

dies nicht das journalistische Lesen, sondern ein Lesen, das

sich bildhaft einstellt. Ein Lesen, das möglich wird als Chance

einer Zeit- und Gegenwarts-Empfindung, möglich wird durch

die Übertragung von allegorischen Bildern, der Fähigkeit das

Singuläre mit dem Allgemeinen zu verbinden und Phänomene

auf ihre Herkunft zu durchschauen. Signaturen sind mehr

als nur Zeichen und weniger als eine schlüssige Bedeutung.

Sie liegen dazwischen. In den Bildern der Reliable News sehen

wir ein Auto nicht nur als Auto, eine Landstrasse nicht nur

als eine Verkehrsverbindung, einen Innenraum nicht nur als

eine Wohnung von einem bestimmten Menschen. Es geht

hier um eine visuelle Sichtbarkeit, die zu sehen gibt, was nicht

unmittelbar sichtbar ist. Ein Bild des Glücks zum Beispiel

oder ein Bild des Elends, des Mittelstands, der Kultur, eines

Soseins, eines Gewöhnlichen, einer Mentalität, einer Epoche,

eines Wartens oder eines Vergangenen.

Das ist das, was gemeint ist, wenn man sagt, dass das Bild

nicht vorhanden ist und wahrgenommen wird, sondern

sich in der Wahrnehmung erst herstellt, erst ein Bild wird.

Darin zeigt sich die Kraft des Essays als ästhetische Praxis,

die experimentiert mit der Wahrnehmung als Erkenntnis,

mit der Performativität von Bild und Text, mit dem Entwurf

von Sinn/Bedeutung und der Verschiebung von Sinngebung

zu (oder in die) Kommunikation. Über Mit-Teilung entsteht

Gemeinschaft, und der Essay fragt gegen den anonymen

Apparat der Nachrichten nach der Verbindlichkeit von Sub-

jektivität in ihrer Mitteilung.