Book, 2015
For half a year, Sabine Troendle sends out a weekly broadcast from Texas: photographs and text via email and a link to her website, where the latest edition is posted each Monday morning at 8 am, Swiss time. Stories are told from America, Texas. These are the observations of a foreigner, who is quite conscious of the effect that everyday Texan life, which is lived as a matter of course, has on her Swiss perception and value judgments. Texas Reliable News is conceived as a broadcast. The term "broadcasting" is generally used for non-commercial audio or video transmissions via radio, TV and other mass media. As this format normally forgoes advenising, it benefits from a certain independence.
Sabine Troendle is a photographer, artist and author of the Texas Reliable News. She thus creates a format that allows her to operate as a reporter on the one hand, while emphasizing the importance of (and the desire for) alternative, decelerated forms of information in today's media landscape on the other hand.
The Reliable News is supplemented by an essay (in German) by Jörg Huber, which sheds light on the highly charged topic of reporting, its manifestations and its transformations.
Texas Reliable News
300 copies
260 pages
Jörg Huber
Zur Ästhetik
der Mitteilung
Ein Versuch
Wenn einen die Bilder und Texte von Texas Reliable News
aus heiterem Himmel erreichen, ist man alsgleich fasziniert
und auch erstaunt. Schnell ist man drin und erwartet ungeduldig weiteres – und wundert sich gleichzeitig und fragt
sich, was einem da zukommt, aus der Ferne, aus Texas.
Sehen lernen
Texas – ein Bundesstaat im Süden der USA, grossräumig und
bevölkerungsreich. Ein weites Land: Landwirtschaft, Vieh-
zucht; die Heimat von Ted Cruz, Senator und Aushängeschild
der Tea-Party-Bewegung, der jüngst tatkräftig mithalf, die
USA an den Rand des Bankrotts zu bringen. Texas: Houston
und Cowboys, ein Mentalitäts-Raum, den die kleinen Ge-
schichten und Beobachtungen von Texas Reliable News zugän-
gig machen. Eine konservative Ecke, denkt man, und fragt
sich: was ist damit gemeint? Wie fühlt sich das an? Um eine
Mentalität zu erfahren, muss man das Sehen wieder neu
lernen, ein Sehen im Widerstand gegen die Herrschaft der
informierten und verstellten Blicke, der vorgefassten Ansich-
ten und Meinungen. Sehen lernen mit Zeit-Zeugen: «Wenn
du Meinungen hast, kannst du nicht sehen.» (Joe Strummer)
Zurück zu einem Nullpunkt also, absichtslos. Langsamer
gehen (Kent Haruf); etwas passiert: plötzlich, es ereignet sich,
fällt dir zu, ohne dass du es erwartet hast: dann, wenn nichts
passiert. (Jake Silverstein) Einfach Bilder machen, en passant,
um sich vorzubereiten auf das Wissen, was, wann zu tun ist.
(Robert Frank) In Erwartung. Geht es doch letztlich um die
«poetische Kraft in dieser unbestreitbaren Tautologie wie in
allem, bei dem es nichts zu verstehen gibt.» (Jean Baudrillard)
Und dazu, zu diesen Stimmen, sehen wir Bilder von Assembla-
gen alltäglicher Zufälligkeit, die ihre skulpturale und poeti-
sche Kraft entfalten, indem sie ohne Sinn sind, nichts meinen
und bedeuten, sondern einzig Zeugnis ablegen, dass da etwas
war oder etwas «kurz vor dem Passieren ist». (John Fante) Es
ist dies die Poesie einer Ding-Magie. Dinge – Objekte, Gerät-
schaften, Autos, Häuser, Signale – sind in diesen Bildern nicht
nur semiotisch erfasst: Sie sind nicht nur Zeichen für etwas,
sondern sind dieses Etwas selbst. Sie stehen für sich und sind
unter sich.
Sie entwickeln ein Eigenleben und kommen auf uns zu, affi-
zieren uns und wirken auf uns. Wir können uns nicht (mehr)
als triumphales Subjekt vorstellen, dass die (Um-) Welt
zum Objekt macht, über sie verfügt und sie beherrscht. Wir
sind vielmehr Teil von Dispositiven, in denen Architekturen,
Dinge, Apparate mit uns vielfältig interagieren. Die Dinge
treten ins Bild und irritieren das Vertraute. «Texas» erfahren
verlangt das Vergessen unserer Wertekultur und ein Bekennt-
nis zur Unkultur, wie Jean Baudrillard zitiert wird: verlangt
«die Waghalsigkeit des Nullpunktes einer Kultur». Der Blick
fällt aus Innenräumen auf Landschaften, Hinterhöfe, Strassen;
durch Fensterrahmen fragmentiert und Fensterglas oder
Vorhänge getrübt: eine Sicht die die «inneren» Vorstellungen
weckt, die Einbildung herausfordert. Kein Überblick der
Orientierung also, sondern Aussichten in Vages. Die Kraft der
Ambivalenz: Texas Reliable News berichten verlässlich im Er-
leben von Geschichten, dass im Misslingen oder Scheitern die
Möglichkeit von Neuem sich eröffnet, gegen das Gelingen und
seine Kapitalisierung. Bilder als Flaschenpost. Es gibt da die
Geschichte vom Postboten, der die Post bringt für jemanden,
der nicht mehr da ist, niemand will die Post, der Bote weiss
nicht, was tun. Eine Mitteilung, die nie ankommt, die immer
unterwegs ist; die ihr Ziel nicht erreicht, was ihr gelingt.
Failure as success, Texas.
Flanierende Aufmerksamkeit
In jedem Weltbezug, den wir uns (und für andere) herstellen,
geht es auch um Aufmerksamkeit. Üblicherweise meinen wir
damit etwas, das ständig gefordert ist, von uns, und von den
anderen. Eine Art Wachsamkeit, die sich auf etwas richtet
und Konzentration verlangt, die Wahrnehmung steuert und
ausrichtet: in der Ausbildung, am Arbeitsplatz, im Verkehr
– und allgemein eben der Welt gegenüber. Die Informations-
arbeit der Medien inszeniert und kanalisiert sie, und wir
versuchen im selben Zug sie auch auf uns zu richten und zu
akkumulieren: Wer wahrgenommen wird und im Rampen-
licht steht hat gewonnen. Mit dieser Art Aufmerksamkeit wird
eine allgemeingültige Weise von Gegenwärtigkeit behauptet,
von Interesse, und Achtsamkeit, die uns als Zeitgenossinnen
und Zeitgenossen auszeichnen soll – eine Verbindlichkeit,
die jedoch bedeutsam ist nur in Form von Einschaltquoten,
Einkommen und anderen statistischen Zurichtungen. Es
gibt da aber auch eine andere Art der Aufmerksamkeit, die
sich in der Zerstreuung ergibt, die frei schwebt und streunt
und sich öffnet, neugierig; als eine Performanz der Präsenz,
die sich mit einer Absenz verbindet; einer Aktivität, die als
Passivität erscheint. Aufmerksamkeit als Empfänglichkeit:
für etwas, das auf mich zukommt, mir zufällt. Etwas, das
verdeckt ist, da war oder kommen wird, anwesend in seiner
Abwesenheit. In diesem Widerfahren gehe ich nicht auf die
Welt zu, um sie zu vermessen und zu begreifen, und sie damit
mir zu eigen zu machen; im Gegenteil: die Welt kommt auf
mich zu, stösst mir zu, mutet mich an, berührt mich. Der-
artaufgemerkt bin ich sensibilisiert für ein Ausser-mir, ein
Gegenüber: Andersheit. Ich lasse das Andere zu, in seiner
Fremdheit. Es ist dies eine Wahrnehmung, in der die Welt
mir vertraut wird, indem sie mich befremdet; in der sich das
Wahrgenommene immer auch entzieht, nicht verfügbar ist.
Die Reliable News sind dieser flanierenden Aufmerksamkeit
verpflichtet. Während die journalistische Aufmerksamkeit
die Welt und uns informiert und damit formatiert, findet hier
ein Mitteilen statt, dessen Ästhetik die Vielstimmigkeit und
Unentschiedenheit von Welt anerkennt, und entsprechend
eine visuelle Erfahrung ermöglicht, die Räume der Andeutun-
gen, der Affektionen, der Übergänge und des Vagen eröffnet.
Die Reliable News exponieren Ansichten und Erzählungen
einer Welt-Erfahrung, die en passant geschieht. Das spricht
uns in unserem eigenen Unterwegssein an, da klingt in uns
etwas an. Das betrifft uns, unmittelbar.
Genre-Bilder des Beiläufigen
Die Bilder und Geschichten faszinieren uns – es geht somit
auch um Attraktivität oder Verzauberung. Alles wird heute
gnadenlos zum Event, das Unberechenbare des Ereignis
mutiert zum Kalkül der Eventkultur. Deshalb übernehmen
immer mehr Schauspieler Regierungsfunktionen. Bilder
funktionieren im Medienzirkus, indem sie sich gegenseitig
übertreffen hinsichtlich eines sogenannt Spektakulären.
Sie müssen attraktiv sein und uns verführen. Unterhaltung
ist angesagt. Sie wirken primär über das «Motiv», über das,
was sie zeigen, auch oder gerade dann, wenn sie damit oft die
Welt nicht erhellen, sondern verstellen. Sie machen vor allem
sich selber sichtbar. Die Bilder, die uns die Reliable News zu-
kommen lassen, ereignen sich und erreichen uns damit auf
andere Weise. Sie erwecken den Eindruck, als ob sie absichts-
los geschehen wären, und erscheinen auf den ersten Blick
gleichgültig. Man könnte sie als eine Art Genre-Bilder des
Beiläufigen bezeichnen. Und gleichzeitig haben sie als visuelle
Chiffren (oder Signaturen) des sozialen Lebens eine auf-
fallende Präzision und Signifikanz. Ich möchte dazu einige
Genre-Titel vorschlagen.
Terrain vague. Die Poesie des Unentschiedenen. Zwischenge-
biete, eine Brache mit Baracken, ein Feldweg, ein Fluss, eine
Abzäunung in einem Feld, das niemand zu bebauen, zu beach-
ten scheint. Und dazu einige Sätze zu Visum, Geburtsschein,
Familie, Heimat, Immigration: meine Welt, deine Welt, über
die Reichen und die «Menschen mit einem Traum». Men-
schenleere Bilder. Bilder eines terrain vague: Landschaften, die
vergessen gingen und die wieder entdeckt werden können;
Orte eines kontingenten Lebens: Möglichkeitsräume, Räume,
die von Menschen beansprucht werden können, um andere
Menschen auszugrenzen; Räume, die offen sind für Menschen,
die ankommen: Zukunftsräume: für das was kommt. Räume
ohne klare Zuordnung, die zum Innehalten zwingen, die es
auszuhalten gilt.
Stilleben. Angehaltene Momente, ein stillgestelltes Leben.
«Frau schaut aus ihrem Küchenfenster hinaus.» Das Bild
zeigt eine Frau, die in ihrer Küche steht und aus dem Fenster
schaut. Rückansicht, Gegenlicht, man sieht ihren Blick nicht,
man sieht nicht, was sie sieht. Man sieht eine Frau, die aus
ihrem Küchenfenster schaut. «Mann sitzt im Auto», «Musiker
schaut auf sein Instrument» – und immer zeigen die Bilder,
was die Sätze sagen. Dieses Ineinanderfallen produziert Stil-
leben. Die Figuren stehen und sitzen da, sie halten inne, um
uns ihre Räume, die Wohn- und Arbeitszimmer, die Land-
schaften, die Ateliers zu eröffnen, und uns Zeit zu geben, sie
gelassen zu durchstreifen und zu erleben, in aller Ruhe, denn
wir wissen, dass die Figuren warten: sie stehen und sitzen
einfach da in ihrem stillgestellten Leben.
Bilder-Haikus. Ein kaleidoskopartig arretiertes Alltagsleben.
Konstellationen, die uns hinsehen und neugierig machen,
ohne dass wir genau wissen warum und was wir davon halten
sollen. Füllige Körper von Menschen, die in einer Kantine
zum essen anstehen; nachts, mächtige Flutlichtleuchten, die
die zerstreuten Figürchen der Fussballspieler auf dem Spiel-
feld auszulöschen drohen; Menschen, die auf einem städti-
schen Platz spätnachmittags tanzen; eine festliche Stimmung
im gutgefüllten Theater, kurz vor dem Beginn der Auffüh-
rung und in der Mitte ein Mann mit Cowboy-Hut. Es sind
dies in und mit der Fotografie arretierte und damit zu Kür-
zestgeschichten kondensierte, scheinbar nichtssagende Erzäh-
lungen, die aneinandergereiht einen möglichen Tag im Leben
von Texas ergeben; einen Tag, der in einzelnen Einstellungen
vor unseren Augen vorbeizieht, markiert nur durch die Anga-
be der jeweiligen Uhrzeit. Bilder, die nicht die Arbeit zeigen,
nicht das Private, sondern ein öffentliches Leben, das gelebt
wird. Ist das ein gutes Leben, fragt man sich, dort irgendwo
in Texas?
Ungewisse Klarheit – möge das so bleiben!
Bilder brauchen Legenden, die sie anbinden; Bilder müssen
lesbar sein, so die Devise derer, die von der Welt Bericht
erstatten. Bilder sind Nachrichten und «Nachricht» bedeutet
(Deutsches Wörterbuch): «mittheilung zum darnachrichten».
Die Lesbarkeit der Bilder garantiert die Lesbarkeit der Welt
und damit ihre Verständlichkeit, so das Credo des Infor-
mationsbusiness. Entsprechend werden die Bilder kontex-
tualisiert, nach den bekannten 6 «W», die das Medienbild
verorten: Wo? Was? Wer? Wie? Wann? Warum? Bilder sollen
damit eindeutig sein in ihrer denotativen Funktion. Vage
Bilder, die sich nicht festlegen lassen, erschrecken, denn damit
gerät die Welt aus den Fugen – womit gesagt ist, dass es hier
auch um Ermächtigung und Kontrolle und Verfügung geht:
über Welt und Bilder.
Wir könnten nun versucht sein, die Unlesbarkeit der Bilder
zu fordern – wie sie, so meine Empfindung, die Reliable News
ins Spiel bringen. Ein Freund vermutete einst, dass Text zu
Kunstwerken unverzichtbar scheint, weil jener die Garantie
liefert, dass diese überhaupt einmal wahrgenommen wurden.
Diese Argumentationsfigur gefällt mir gut, wobei ich ergänzen
möchte, dass das Kunstwerk gleichzeitig den Text herausfor-
dert, um deutlich zu machen, dass es sich ihm in jedem Fall
auch entzieht: uneinholbar bleibt. Und genau dieser Chiasmus
von Präsenzvergewisserung und Entzugsbehauptung prägt
das Text-Bild-Spiel von Texas Reliable News. Texte und Bilder
laufen nebeneinander her, sie weisen aufeinander und sind
sich im selben Zug gleichgültig; sie kommen einander näher
und entfernen sich entschieden. Doch stets produzieren sie
eine Spannung der Bezüglichkeit, der Verhältnisnahme, nicht
zuletzt auch, weil sie unterschiedliche Weisen der Rationalität
und der Wahrnehmung exponieren. Den Bildern eignet eine
spezifische Logik des Visuellen an, eine andere Logik als die-
jenige des Sprachlichen: des Nicht-Präpositionalen und des
Nicht-Prädikativen. Bilder zeigen (etwas), so wie die Sprache
(etwas) sagt, sie geben (etwas) zu sehen, während die Sprache
(etwas) zu vernehmen gibt. Wenn das vorherrschende Ver-
ständnis hier klare Trennungen vornimmt und eine gegensei-
tige Indienstnahme etabliert (das Bild illustriert den Text,
der Text erklärt das Bild), ermöglicht das offenere Verhältnis
dagegen die Einsicht und die Erfahrung, dass beide Seiten sich
bespiegeln und durchkreuzen. Auch Bilder sagen etwas, auch
sie führen zu einem Verstehen; auch Sprache hat ihre visuellen
Seiten und ihre sinnliche Qualität. Ihr Gemeinsames könnte
man, in Hinsicht auf die Reliable News, als ihre Poesie be-
zeichnen. Im Poetischen klingt in der Textlektüre das Bild als
Echoraum an und im Bild schreibt sich der Text ein als Spur,
Markierung, Klang, Anzeichen, Signatur. Es ist diese Art
zwiespältige oder doppelbödige Empfindsamkeit, die Reliable
News in Gang setzen und begleiten und eine Welterfahrung
berühren, die weiter oben als latente Aufmerksamkeit ange-
sprochen wurde. Hier entsteht ein Riss im medialen Verfügen
über die Welt und diese erscheint, derart eröffnet, als das
Unverfügbare und stets wieder neu zu Erfahrende. Kein
Ab- und Verschluss also, sondern jede Sendung ein Angebot,
ein Geschenk, eine Gabe – jenseits jeder Erwartung, denn
würde sie erwartet, in dem was sie enthält, wäre sie keine
Gabe. Poesie als Gabe. Peter Handke schreibt zu Beginn
seines neuen Textes über den «Pilznarren», dass er versucht –
es ist ein Versuch! – sich über die Geschichte eines Freundes
«eine gewisse – oder eher eine ungewisse – Klarheit zu ver-
schaffen». Doch ist ihm schon da, am Anfang, Wesentliches
unklar, und er notiert: « ... und wird und wird mir auch nicht
klar; und wieder unwillkürlich sage und schreibe ich jetzt:
‹Möge das so bleiben›!» Der Text wird keine Klärung liefern.
Genau so könnte dies für die Reliable News-Sendungen
stehen, die eine Faszination erwecken, indem sie wie Rätsel
oder ein Geheimnis funktionieren. Sie bewirken diese unge-
wisse Klarheit oder Nicht-Klarheit, die nicht aufgehoben
werden kann und soll. Ein Bild zeigt ein mittelständisches
Wohnen auf dem Land, menschenleer, zwei Häuser, ordentlich
gemähter Rasen, eine asphaltierte Strasse, die den halben
Bildraum einnimmt: ein non-lieu. Der Text sagt: «Aber die
Reichen haben Angst. Sie fürchten sich vor den Steuern.»
Anlässlich eines Symposiums über Erzählen mit Daten schil-
derten zwei Macher einer grossen Schweizer Tageszeitung,
wie sie in einem umfangreicheren Beitrag über «Fukushima»
berichten. Bilder vor Ort, Interviews mit «Betroffenen»,
Bericht des Journalisten und Grafiken mit Daten aller Art,
die die «Hintergründe» liefern. In diesem Package werden
heute die Daten-Grafiken immer wichtiger, da mit ihnen,
so die Meinung, «komplizierte Zusammenhänge» anschaulich
und damit verständlich gemacht werden können. Diese Art
«Anschaulichkeit» soll Evidenz stiften: die Grafik zeigt, wie
eine Kurve nach unten führt, und die Legende sagt, dass
das radioaktive Kontamination (der Landschaft) sinkt. Der
poetische Broadcast will genau diese Evidenzstiftung verhin-
dern: Unlesbarkeit, Ungewissheit oder eine ausgeschobene
Gewissheit: «Möge es so bleiben!» Dies aber eben als spezi-
fisch, poetische Form der Erkenntnis und der Wahrnehmung,
die Annäherung und Erfahrung, Empfindung und Mit-Teilung
ist – nicht als Zeichen von Ignoranz! Es gibt ein Verstehen
im Nicht-Verstehen, eine Erkenntnis, die nicht rational
verfährt, eine Sinngebung, die affektiv erfolgt.
Fotografien, Bilder.
Der Kunstwissenschaftler Georges Didi-Huberman ent-
wickelt in einer Bildreflexion zu einer «Verkündigung»
von Fra Angelico folgende Unterscheidung: Das Bild zeigt
einerseits links den Engel, rechts Maria. Das ist die Dar-
stellung, die Erzählung der Geschichte, die wir kennen. Das
Schauspiel. Das ist die Sichtbarkeit des Bildes. Andererseits
öffnet sich in der Bildmitte ein weisser Raum, ein Raum
der weissen Farbe, des Weissen. In diesem Farbereignis zeigt
sich das Unsagbare, das zwischen den Figuren geschieht.
Und es zeigt sich damit das Bild selber, seine Bildlichkeit,
seine Visualität. Bilder oszillieren zwischen Sichtbarkeit und
Visualität, zwischen Narration und Bildlichkeit. Die Bilder,
die uns von den Reliable News zukommen, verschieben die
Aufmerksamkeit weg von der gegenständlichen, linearen
Narration hin zu der Visualität. Diese Bildlichkeit ist ihre
Leere und umgekehrt. Diese Leere ist ihre Bedeutung, eine
Bedeutung, die uns nicht etwas Bestimmtes bedeutet, sondern
die von uns immer wieder erneut hergestellt werden muss.
Die Bilder ergeben sich stets neu, mit jeder Geschichte, mit
jeder Bemerkung, die ihnen beigestellt wird, und wir beleben
sie stets neu mit jedem Blick, den wir in sie versenken.
Weil da jemand war
Texas Reliable News berichten von etwas, das nur schwer
fassbar ist, das wir aber alle irgendwie zu kennen scheinen.
Das heisst aber nicht, dass es sich nicht auch fassbar und
konkret zeigt. Die Reliable News gehen ebenso zur Sache,
und «Amerika» steht ebenso für eine konkrete politische
und soziale Realität. Hier geht es um die Bedrängnisse eines
alltäglichen (Über-)Lebens, um Gemeinschaft und Commu-
nity, Öffentlichkeit und Demokratie, Ressourcen, Eigentum
und Gewalt, Multikulturalität und das Land der unbegrenz-
ten Möglichkeiten, um das Hier und Dort bei Grenzen,
um Immigration und «my land» und auch um die «Fünfte
Schweiz» ... Reliability, Verlässlichkeit. «Aus sicherer Quelle ...»
versichert das News-Geschäft – «aufgrund einer Anwesenheit»
würden die Reliable News sagen. Wir können uns auf die Mit-
teilungen verlassen, nicht weil «es so war», sondern weil da
jemand war. Es fand sich jemand ein, war dort, nahm sich
Zeit, nahm wahr. Liess Bilder zu, schaute, erlebte, las Litera-
tur und Zeitungen, sprach mit den Menschen, versuchte dort
zu leben und wollte dieses (Er)Leben an andere aussenden,
um Teilnahme zu ermöglichen.
Von einem Punkt einer intensiven Gegenwärtigkeit
netzwerkartig ausgestrahlt: Broadcast.
Von einem Punkt aus. Die Subjektivität, die aus der Nähe ent-
steht, als Bodenperspektive, als ein leibhaftes Sehen, einer
Art Feldforschung. Eine Subjektivität, die das, was sie sieht
und bemerkt erfindet, die die Geografie herstellt, in der sie
unterwegs ist. Geografie entsteht, indem Menschen die Natur,
die Landschaft, den Boden begehen, sich aneignen und sich
eintragen. Diese Spuren, auch wenn sie nur ephemer sind und
kaum sichtbar, können von dem- oder derjenigen, die sich
einfindet, entdeckt und entziffert werden. Bei den Reliable
News handelt es sich um Bilder nicht über etwas; nicht Bilder,
die etwas thematisieren, sondern um Bilder, in denen sich
etwas zeigt, die etwas zu sehen geben. Es sind Bilder, in denen
Signaturen einer Zeit zu sehen und zu «entziffern» sind. Es ist
dies nicht das journalistische Lesen, sondern ein Lesen, das
sich bildhaft einstellt. Ein Lesen, das möglich wird als Chance
einer Zeit- und Gegenwarts-Empfindung, möglich wird durch
die Übertragung von allegorischen Bildern, der Fähigkeit das
Singuläre mit dem Allgemeinen zu verbinden und Phänomene
auf ihre Herkunft zu durchschauen. Signaturen sind mehr
als nur Zeichen und weniger als eine schlüssige Bedeutung.
Sie liegen dazwischen. In den Bildern der Reliable News sehen
wir ein Auto nicht nur als Auto, eine Landstrasse nicht nur
als eine Verkehrsverbindung, einen Innenraum nicht nur als
eine Wohnung von einem bestimmten Menschen. Es geht
hier um eine visuelle Sichtbarkeit, die zu sehen gibt, was nicht
unmittelbar sichtbar ist. Ein Bild des Glücks zum Beispiel
oder ein Bild des Elends, des Mittelstands, der Kultur, eines
Soseins, eines Gewöhnlichen, einer Mentalität, einer Epoche,
eines Wartens oder eines Vergangenen.
Das ist das, was gemeint ist, wenn man sagt, dass das Bild
nicht vorhanden ist und wahrgenommen wird, sondern
sich in der Wahrnehmung erst herstellt, erst ein Bild wird.
Darin zeigt sich die Kraft des Essays als ästhetische Praxis,
die experimentiert mit der Wahrnehmung als Erkenntnis,
mit der Performativität von Bild und Text, mit dem Entwurf
von Sinn/Bedeutung und der Verschiebung von Sinngebung
zu (oder in die) Kommunikation. Über Mit-Teilung entsteht
Gemeinschaft, und der Essay fragt gegen den anonymen
Apparat der Nachrichten nach der Verbindlichkeit von Sub-
jektivität in ihrer Mitteilung.